„Am Pult stand der wunderbare Dennis Russell Davies“ – Jazz-Programm (Ellington, Dauner und Miles Davis) mit dem MDR-Orchester im Gewandhaus und beim Kurt-Weill-Festival in Dessau
Dennis Russell Davies dirigiert Jazz-Sinfonik mit dem Leipziger Rundfunkorchester
Miles Davis’ und Gil Evans’ „Sketches of Spain“ standen im Mittelpunkt des Reihe-eins-Konzerts des MDR-Rundfunkorchester. Am Pult stand der wunderbare Dennis Russell Davies, die Solo-Trompete blies der fabelhafte Simon Höfele.
Leipzig
Die Idee ist ziemlich gut: Zwischen den potenziellen Kandidaten für die vakante Chefdirigentenstelle hat das Leipziger Rundfunkorchester in der kopflosen Zeit, die durch den Abgang Kristjan Järvis entstand, immer mal wieder einen alten Hasen am Pult, einen Könner, der niemandem mehr etwas beweisen muss, aber bereit ist, wirklich zu arbeiten mit dem Rundfunkorchester. Nun gut, mit Marek Janowski, dem alten und neuen Chef der Dresdner Philharmonie, ist der Plan nicht aufgegangen. Der war mit dem Ergebnis seines ersten MDR-Konzerts in dieser Saison so wenig zufrieden, dass er das zweite kurzerhand absagte. Nun aber, mit Dennis Russell Davies am Pult, wird alles gut.
Eine Frage der Chemie
Es ist wohl auch eine Frage der Chemie. Der 74-jährige US-Amerikaner, der nur aus gesundheitlichen Gründen 2007 nicht Nachfolger Fabio Luisis wurde, und das Leipziger Rundfunkorchester, sie verstehen sich bestens. Sie taten es in der letzten Woche, als sie gemeinsam eine exzellente Achte Bruckners ablieferte. Sie tun es nun mit einem völlig anderen Programm, mit sinfonischem Jazz am Samstagabend im mau besuchten Gewandhaus und am Sonntag beim Kurt-Weill-Fest in Dessau.
Sparsames Genie
Der Schwerpunkt des Programms liegt auf der zweiten Halbzeit, obschon die viel kleiner besetzt ist als die großorchestralen Brocken zuvor. Aber weder Duke Ellingtons „Black, Brown and Beige“ noch Wolfgang Dauners „Second Prelude to the Primal Scream“ entwickeln den Zauber von Miles Davis’ und Gil Evans’ „Sketches of Spain“. 60 Jahre ist das gleichnamige Album alt – und es ist nicht nur bis heute ein aufnahmetechnischer Geniestreich geblieben, sondern auch musikalisch über all die Jahre unerreicht und einzigartig. Denn die Farbigkeit des Bläser-Ensembles, das den größten aller Jazz-Trompeter immer wieder neu und anders umschmiegt, dessen sparsames Genie, der überbordende klangliche Reichtum bei gleichzeitiger äußerster Reduktion, sie wuchsen zusammen zu einem einsamen Meisterwerk jenseits aller Schubladen.
Nicht nachgespielt
Kann man, soll man, darf man so etwas nachspielen? Nein, besser nicht. Denn selbst wenn es glückte, wäre das Ergebnis nichts als das: nachgespielt. Aber Nachspielen, das ist auch nicht der Weg der Funkorchester-Delegation hinter dem fabelhaften Simon Höfele an der Solo-Trompete und vor Dennis Russell Davies. Im Gewandhaus nehmen sie die „Sketches of Spain“ vielmehr als Werk ernst und erschaffen es im Augenblick des Musizierens neu – mit der gleichen Sinnlichkeit und Ernsthaftigkeit wie eine Woche zuvor den Bruckner.
Vexierspiel der Farben
Vier Hörner, vier Trompeten, zwei Posaunen, Tuba, vier Flöten, Oboe, Englisch Horn, Bass- und Kontrabassklarinette, Klarinette, Fagott, Harfe, Bass, Drum-Set, Pauke und zwei weitere Perkussionisten, das ist die Besetzung dieses dreiviertelstündigen Vexierspiels der Farben und Reflexe, der zarten Linien, des lebendig atmenden ruhigen Pulses. Und dass diese Bläser die gleichen sind, die vor wenigen Monaten noch unter Janowski den instrumentalen Teil von Bruckners e-moll-Messe vor die Wand gefahren haben, ist kaum zu glauben.
Geniale Instrumentation
Was sie nun unter Russell Davies abliefern, muss jedenfalls keinen Vergleich scheuen. Auch nicht den mit dem Original-Album. Denn Gil Evans hatte 1959/60 kein Bläserensemble zur Verfügung, das so zart die Dissonanzen auszubalancieren in der Lage war. Er hatte keinen Fagottisten, der so beredt und warmherzig in weit ausholenden Melismen zu seufzen befähigt war. Er konnte selbst im Studio offenhörlich nicht so detailliert umsetzen, was seine geniale Instrumentation hergab.
Sensationeller Solist
Auch Simon Höfele, Jahrgang 1994, widersteht der naheliegenden Versuchung, Miles Davis zu kopieren. Natürlich muss er den fragilen Solopart der „Sketches“ nach den Konturen modellieren, die der Meister vorgab, bleibt dessen auf Vinyl der Ewigkeit übergebenes Spiel der Maßstab. Aber Höfele nutzt den engen Spielraum, um ein eigenes klangliches Relief zu gestalten. Sein Ton ist ohne Dämpfer wärmer, runder, ein wenig verbindlicher als der des verblichenen Kollegen, mit Dämpfer dagegen ist er minimal spitzer. Höfele atmet und singt die Linien, als entsprängen sie ihm in Echtzeit. Lebendig klingen sie und beseelt, entrückt und diesseitig zugleich in ihrer introvertierten Schönheit. Ein sensationeller Solist, der sich mit Chet Bakers „My Funny Valentine“ ebenso tiefgründig für den Jubel im Saal bedankt.
Geschärfte Sinne
Diese Tiefe erreichen die beiden Aufwärmer vor der Pause nicht. Aber sowohl Ellingtons süffiges „Black, Brown and Beige“ als auch Dauners virtuos, witzig und vehement pulsierendes „Urschrei-Vorspiel“ sind offenbar bestens geeignet, um angeleitet vom großartigen Dennis Russell Davies, die Sinne des Publikums und des Orchesters zu schärfen für den Kosmos aus Nuancen danach. Von der präpotenten Kraftmeierei des Blechs, das die erste Hälfte der Ellington-Suite noch unziemlich zerlärmt, ist jedenfalls schon im Dauner beinahe nichts mehr übrig.
Das Konzert ist eine Woche lang nachzuhören auf www.mdr-kultur.de